Liebe Frau Gerlof, ich freu mich, dass Sie sich Zeit nehmen für ein kurzes Interview.
Sie haben ja ein ganz schön abwechslungsreiches Leben. Meinen Sie ihr Werdegang hat eine Auswirkung auf Ihre Bücher bzw. die Charaktere der Protagonisten?

Ich glaube schon, dass meine Bücher sich von dem nähren, was ich erfahren und erlebt habe, davon, wie und wo ich gelebt habe. Auch wenn es keine autobiografischen Texte sind. Ich bin in der DDR aufgewachsen, das hat mich geprägt. Mich hat die Erfahrung geprägt, dass Gesellschaftsordnungen untergehen können, dass man von vorn anfangen, aber Geschichte nicht entsorgen kann. Zweifel, Unsicherheit, Ungewissheit sind mir sehr vertraut. Das gebe ich meinen Figuren in den Büchern mit. Die zweifeln, sind unsicher und ohne Gewissheiten. 
Wie viel von Ihrem persönlichen Erfahrungsschatz steckt in den Geschichten?
Ich sammle Geschichten, was nicht unbedingt heißt, dass ich sie alle auch erlebt habe. Persönlicher Erfahrungsschatz ja, aber der nährt sich beim Schreiben sehr stark aus Zuhören und Beobachten. Ich habe in meinem Leben schon sehr viele und sehr ausführliche Gespräche mit alten Menschen geführt. Die erzählen, ich höre zu. Ich baue aus vielen, die mir etwas von sich, ihren Ängsten, Erfolgen, Hoffnungen erzählt haben, eine Kunstfigur. Klara, meine Hauptperson in „Alle Zeit“ besteht also aus vielen Frauen, die ich kennengelernt habe.
Gab es ein bestimmtes Erlebnis, das Sie bewegt hat, diesen Roman um die Frauengeschichten zu schreiben?
Das hat tatsächlich etwas mit einer Zeit zu tun, in der ich als Journalistin für eine Wochenzeitung eine Serie mit Porträts alter Frauen geschrieben habe. Es war der Beginn von etwas. Sich damit zu beschäftigen, wie es ist, wenn man vergisst. Und wie seltsam und natürlich es zugleich ist, dass in einer Familie möglicherweise ein Mensch gerade beginnt, all das zu vergessen, was ein anderer, neugeborener Mensch lernt. Mich hat bei den Gesprächen mit alten Menschen besonders beeindruckt, mit welcher Kreativität sie oft auf die Suche nach Wörtern gehen, die ihnen entfallen sind. Wie sie umschreiben, Synoyme, Bilder finden. Das ist, trotz aller Tragik und Traurigkeit, eine beeindruckende Art, mit Defiziten umzugehen.
In „Alle Zeit“ beschäftigen Sie sich u.a. mit dem Altwerden. Wie gehen Sie damit um, und haben Sie persönlich Angst vor Alzheimer?

Die zweitgrößte Angst meines Lebens ist die vor dem Verlust des Gedächtnisses, der Erinnerung. Die erste Angst wird sicher immer die um die eigenen Kinder bleiben, vor der Möglichkeit, dass die eigenen Kinder vor einem sterben. Aber sich nicht mehr erinnern zu können, sich zu verlieren, ist schlimm. Man kann sich davor nicht schützen und es gibt keinen Trost.
Kennen Sie Schreibblockaden, Frau Gerlof? Wie gehen Sie damit um?
Ich glaube, alle die schreiben, sind irgendwann auch mal blockiert. Der Zweifel hat die Macht übernommen, was man aufschreibt, kommt einer plötzlich banal und schlecht vor. Es ist mir noch nie passiert, dass ich dann gar nicht mehr schreiben konnte. Aber sehr wohl, dass ich dachte: Hör auf, du kannst es nicht, niemand wird das lesen wollen, es ist schlecht, wirf es weg. Wie ich damit umgehe? Ich verzweifle. Und ich kann nicht erklären, was dem dann wie ein Ende bereitet.
Haben Sie literarische Vorbilder? Wenn ja, welche sind das?
Marlene Streruwitz. Ich mag ihr geradezu adjektivloses Schreiben. Ray Bradbury. Ich mag seine lakonische Sprache und bin beeindruckt von seinem Mut zur Hoffnungslosigkeit. Aglaja Veteranyi. Sie hat nur zwei Bücher geschrieben und sich dann das Leben genommen. Ihre Sprache ist Experiment und Spiel mit der Form. 
Welches Buch verdient es Ihrer Meinung nach ein Bestseller zu werden?
Herman Melville: „Bartleby, der Schreibgehilfe“ erschienen im Manesse-Verlag, Zürich 
Verraten Sie uns schon etwas über Ihre nächsten Pläne? Wird es in nächster Zeit einen neuen Roman geben? Und möchten Sie etwas darüber verraten?
Ich schreibe an einem dritten Roman. Der wird voraussichtlich im Jahr 2011 erscheinen. Es ist ein Roman über das Gefühl der Verlassenheit. Ein Buch darüber, ob man mit Wut die Verzweiflung in Schach halten kann. Meine Hauptfigur ist ein Mann, ein wütender Mann, der sich abwendet und Verrat übt.
Liebe Frau Gerlof, ich wünsche Ihnen für ihren dritten Roman viel Erfolg und sage vielen Dank für ihre Zeit.
Die Buch aus der Verlosung geht an 
Nico N.
Herzlichen Glückwunsch
© Ricarda Ohligschläger
Foto  (c) Rico Prauss

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