Niemand ist von Geburt an böse
Herr Dorn, welche Inspiration gab es für Sie „Mein böses Herz“ zu schreiben?

Nachdem ich immer wieder Leserzuschriften von Jugendlichen zu meinen Erwachsenenromanen erhalten hatte, wollte ich auch einmal gezielt für diese Lesergruppe schreiben. Hinzu kam, dass ich schon über längere Zeit mit einer Idee geliebäugelt hatte, die irgendwie nicht funktionieren wollte, bis mich mein Agent darauf brachte, dass dies ein passendes Thema für einen Jugendroman sei. Damit löste er den gordischen Knoten und Doro wurde geboren.
Es sollte eine Geschichte über „das Böse“ werden. Das Thema hatte mich schon lange beschäftigt. In den meisten Geschichten wird das Böse durch einen Antagonisten definiert, dem eine „gute“ Heldenfigur gegenübersteht, und in der Regel gibt es eine klare Trennung zwischen beiden Seiten. Aber ganz so einfach ist es in der Realität nun einmal nicht. Es gibt viele Grauzonen und ich bin überzeugt, dass in jedem von uns auch ein bösartiger Anteil steckt. Der entscheidende Punkt dabei ist, ob wir diesem Anteil bei unseren Handlungen nachgeben oder nicht, und welche Auswirkungen eine solche Entscheidung auf unser weiteres Leben haben kann. Aus dieser Überlegung heraus entstand Doros Geschichte.
(Die beiden nachfolgenden Fragen habe ich zusammengefasst, da sie sich ähnlich sind:)
Ist Doro eine fiktive Person oder gibt es diese Person wirklich? Wenn ja, war es möglich ihr für das Buch gezielte Fragen zu stellen?
Der Roman ist aus der Sicht einer jugendlichen  Protagonistin geschrieben. Sie sind 1969 geboren. Wie kommt es, dass Sie sich so gut in die Gefühlswelt von Jugendlichen versetzen können? Haben Sie sich auf Ihre neue Zielgruppe – Jugendliche – vor dem Schreiben des Romans speziell vorbereitet?
Nein, Doro gibt es nicht wirklich. Sie ist eine rein fiktive Person und ich bin bei ihr wie bei jeder meiner Romanfiguren vorgegangen: Zuerst habe ich ihren Lebenslauf zusammengestellt und mir einen Überblick über ihr Äußeres, ihre Vorlieben, Interessen und Ängste verschafft. Das hilft mir, die Handlungsweisen einer Figur in bestimmten Situationen abzuschätzen.
In Doros Fall fiel die Vorarbeit noch intensiver aus, da ich mich ja nicht nur in eine weibliche Rolle hineinversetzen musste, sondern auch in die Gedankenwelt einer Jugendlichen. Dabei waren mir meine Frau, meine Nichte (die genau in Doros Alter ist) und ihre Freundinnen eine große Hilfe. Sie haben mich bei allen wichtigen Details beraten.
Wenn Doro wie eine reale Person auf meine Leser wirkt, freut mich das sehr. Mir ging es übrigens ähnlich, auch wenn sich das vielleicht etwas abgehoben anhören mag. Doro entwickelte schnell ein Eigenleben und irgendwann hatte ich beim Schreiben das Gefühl, sie würde mir ihre Geschichte selbst erzählen und ich müsste nur noch mitschreiben. Das sind diese ganz besonderen Erlebnisse, die ich beim Schreiben so liebe.
Kann ein Ereignis, wie der Tod eines geliebten Menschen, bei jedem Menschen derartige Halluzinationen hervorrufen?
Es ist durchaus möglich, aber man kann das nicht pauschalisieren. Jeder Mensch geht unterschiedlich mit traumatischen Ereignissen um. Wie stark uns ein solches Erlebnis im Nachhinein belastet und welche Auswirkungen das auf die Psyche hat, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Bei Doro handelt es sich um eine sehr sensible Jugendliche, die sich zudem die Schuld am Tod ihres kleinen Bruders gibt. Den Grund dafür hat sie verdrängt, woraufhin sich ihre Schuldgefühle durch Halluzinationen aus ihrem Unterbewusstsein manifestieren. Bei einer anderen Person hätte sich das vielleicht ganz anders bemerkbar gemacht. Gerade deshalb finde ich das Thema der menschlichen Psyche ja auch so spannend.
Mussten Sie, im Gegensatz zu den Thrillern für Erwachsene, einen „Gang zurückschalten“?
Das würde ich so nicht sagen, da es in meinen Geschichten ohnehin nicht um vordergründige Brutalität oder Gewaltexzesse geht. Ich möchte auf subtile und unterschwellige Weise Spannung erzeugen, und in dieser Hinsicht hatte ich nicht den Eindruck, mich besonders zurückhalten zu müssen – vor allem nicht, seit ich weiß, dass auch meine Erwachsenenromane eine große jugendliche Leserschaft gefunden haben.
Aus meiner Sicht besteht der hauptsächliche Unterschied zum Erwachsenenthriller in der Geschichte selbst. Denn neben dem thrillertypischen Nervenkitzel sollte es sich um ein Thema handeln, das Jugendliche interessiert und beschäftigt, mit Protagonisten, die eine Identifikationsmöglichkeit bieten. Deshalb glaube ich, dass eher das Gegenteil der Fall ist und der Autor in Sachen erzählerischer Tiefe bei Jugendlichen sogar noch einen Gang höher schalten muss.
Was empfanden Sie als größte Herausforderung beim Sprung von Erwachsenen-Thriller zum Jugendbuch-Thriller?
Die größte Herausforderung bestand für mich darin, ein Thema zu finden, das Jugendliche anspricht und es spannend zu erzählen, ohne dabei in Klischeefallen zu tappen. Auf keinen Fall sollte Doro wie eine „Wie-sich-ein-Dreiundvierzigjähriger-eine-Sechzehnjährige-vorstellt“-Figur wirken.
Welche Anregungen gab es für den Titel auf dem Buch  „Mein böses Herz“?
Der ursprüngliche Arbeitstitel war „Unsagbar böse“ und sollte eine Anspielung auf die verdrängte Erinnerung sein, die für Doro unaussprechlich ist. Irgendwann schlug meine Lektorin „Mein böses Herz“ als Alternative vor. Ich weiß nicht mehr, wie sie auf diese Idee kam, aber auch mir gefiel dieser Titel sehr viel besser. Einige Zeit später machten die ersten Coverentwürfe die Runde und wir alle, das Verlagsteam und ich, fanden die Buchstaben auf der beschlagenen Glasscheibe richtig stark und aussagekräftig. Da ich zu dieser Zeit noch am Schreiben war, blieb mir Gelegenheit, eine entsprechende Szene zum Titelbild in die Geschichte einzufügen. So ist dann eine meiner persönlichen Lieblingsstellen im Buch entstanden.
Dürfen wir in Zukunft weitere Jugendromane von Ihnen erwarten?
Dafür gibt es noch keine konkreten Pläne. Aber da „Mein böses Herz“ so positiv bei den jungen Lesern ankommt, kann ich mir durchaus vorstellen, wieder einen Jugendroman zu schreiben. Derzeit arbeite ich aber noch am nächsten Roman für Erwachsene.
Schaffen Sie es denn Ihre Arbeit in der Psychiatrie vom Schreiben zu trennen. Oder fließen die Gedanken von der Arbeit immer wieder mit hinein? 
Natürlich schreibe ich nicht über die Fälle, mit denen ich im Klinikalltag zu tun habe, aber der Beruf an sich beeinflusst sicherlich auch meine Geschichten. Schreiben ist schließlich auch Psychologie. Man setzt sich mit Handlungs- und Denkweisen fiktiver Charaktere auseinander und macht sich Gedanken, wie bestimmte Szenen auf die Leser wirken werden. Insofern gibt es also durchaus Überschneidungen.
Wie kommen Sie auf die Ideen? Wo holen Sie sich Ihre Inspiration? 
O weh, das ist wohl die schwierigste Frage, die man mir stellen kann (lacht). Ehrlich gesagt, kann ich darauf keine zufriedenstellende Antwort geben. Mir fallen immer wieder mal Dinge ganz spontan ein. Oder ich lese/höre/sehe etwas, das mich dann zu einer Idee führt. Deshalb begleitet mich mein Notizbuch auf Schritt und Tritt – übrigens noch ein ganz altmodisches Notizbuch mit Papierseiten und Stift – in dem ich jeden Einfall festhalte.
Meistens ist es auch nicht eine Idee allein, die sich zu einer Geschichte entwickelt, sondern die Kombination mehrerer Einfälle. Das ist der große Vorteil des besagten Notizbüchleins, denn auch wenn eine Idee vielleicht anfangs noch absurd oder unbedeutend erscheinen mag, weiß man nie, wofür man sie noch einmal brauchen kann und ob sie nicht zusammen mit weiteren Ideen plötzlich große Bedeutung bekommt …
War das Schreiben für Sie immer ein Kindheitstraum und oder gab es ein bestimmtes Ereignis, dass Sie dazu gebracht hat?
Ich habe schon immer gerne Geschichten erzählt. Noch bevor ich schreiben konnte, habe ich rudimentäre Comics gezeichnet und Bilder zu meinen Geschichten gemalt. Mit zwölf habe ich dann meine erste Kurzgeschichte geschrieben – an einem verregneten Ferientag, das werde ich nie vergessen. Seither schreibe ich. Lange Zeit nur für mich selbst, aus reiner Freude am Fabulieren, und seit einigen Jahren nun auch für die Öffentlichkeit.
Arbeiten Sie weiterhin in der Psychiatrie oder sind Sie mittlerweile hauptberuflich als Autor tätig?
Die Frage erreicht mich zu einem interessanten Zeitpunkt, denn nach achtzehn Jahren Klinikarbeit habe ich mich nun ganz aufs Schreiben verlagert. Die vergangenen drei Jahre konnte ich ohnehin nur noch in Teilzeit in der Psychiatrie tätig sein, um mehr Zeit fürs Schreiben, Lesereisen, Buchmessen usw. zu haben. Inzwischen reichte die Zeit dafür aber längst nicht mehr aus und ich musste mich entscheiden. Leicht fiel mir das nicht, da mir beide Tätigkeiten viel bedeuten. Deshalb werde ich mich auch weiterhin für die Belange psychisch kranker Menschen einsetzen, nur eben ehrenamtlich und in deutlich kleinerem zeitlichen Rahmen.
Die Arbeit in der Psychiatrie stelle ich mir persönlich sehr belastend vor. Wie viel nimmt man mit nach Hause oder lernt man irgendwann den Abstand?
In diesem Tätigkeitsfeld lernt man früh, eine professionelle Distanz einzuhalten. Sicher, das gelingt nicht immer und gelegentlich gab es auch Fälle, die mich auch nach Dienstschluss noch beschäftigten. Aber meist ist es mir gelungen, mich innerlich so weit wie nötig abgrenzen. Das ist in allen sozialen Berufen wichtig, andernfalls würde man sich über kurz oder lang darin aufreiben.
Wollten Sie schon immer etwas mit Psychologie als Beruf ausüben, oder hat es Sie „zufällig“ in diesen Bereich verschlagen?
Interessiert hatte mich Psychologie schon immer, aber dass ich wirklich einmal mit psychisch kranken Menschen arbeiten würde kam tatsächlich durch einen Zufall zustande. Vor gut achtzehn Jahren war ich noch als Sachbearbeiter für ein Großunternehmen tätig und ziemlich unzufrieden mit diesem Job. Mein Aufgabengebiet füllte mich einfach nicht aus. Dann sah ich die Stellenanzeige einer Klinik, die einen Jobtrainer für Patienten in der beruflichen Rehabilitation suchte und bewarb mich. Ich bekam die Stelle, machte Zusatzkurse in Psychopathologie, Pharmakologie usw. und blieb die nächsten achtzehn Jahre in diesem Berufsfeld, von denen ich noch drei Jahre parallel in der psychiatrischen Versorgungsforschung tätig war.
Wenn Sie die Möglichkeit hätten ein Buch mit jemanden zusammen zu schreiben, auf wen würde Ihre Wahl fallen?
Offen gesagt kann ich mir eine Kooperation mit anderen Autoren nicht vorstellen. Es heißt zwar immer, man sollte niemals nie sagen, aber in diesem Fall kann ich es wirklich hundertprozentig ausschließen. Ich bin beim Schreiben einfach kein Teamworker – war ich noch nie.
Glauben Sie, dass das Böse im Menschen von Geburt an da ist oder erst durch seine Umgebung entsteht?
Niemand ist von Geburt an böse – außer vielleicht Damien Thorn (lacht). Nein, ganz im Ernst, solange sich ein Kind der Tragweite seiner Handlung nicht bewusst ist, ist es auch nicht böse. Erst die bewusste Intention, eine böse Handlung zu vollziehen, macht sie ethisch verwerflich. Aber selbst dann muss man noch unterscheiden. Wenn ein Slum-Kind aus Hunger stiehlt, ist das sicherlich etwas anderes, als wenn hierzulande ein Jugendlicher das iPhone eines Mitschülers klaut. Die Definition von „gut“ und „böse“ ist jedenfalls ein sehr komplexes Thema, und gerade deshalb finde ich es unglaublich spannend.
Wird es weitere Thriller um den Psychiater Jan Forstner geben?
Der arme Kerl hat in „Kalte Stille“ und „Dunkler Wahn“ eine Menge schlimmer Dinge durchmachen müssen. Deshalb will ich ihm vorerst eine Pause gönnen. Ich finde, das hat er sich redlich verdient.
Was fragt man einen Autor, den man bisher nicht kannte und dessen Bücher man noch nicht gelesen hat? Was würde Wulf Dorn fragen?
In dem Fall würde ich fragen: „Lieber Wulf, wem würdest du deine Bücher empfehlen?“ Und die Antwort wäre: „Jedem, der gerne spannende, unheimlichen Geschichte liest.“
Lieber Wulf Dorn, ich bedanke mich von Herzen – auch im Namen meiner Blogleser – für dieses Interview und freue mich auf weitere Bücher von Ihnen als Autor.
Die Bücher aus der Verlosung gehen an
Claudia E.
Jasmin Sch.
Herzlichen Glückwunsch!
Die Interviewfragen stammen u. a. aus Einsendungen, im Rahmen der Aktion „Leser fragen – Autoren antworten”
Cover „Mein böses Herz“ © cbt

2 thoughts on “Interview mit Wulf Dorn

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