Die Sehnsucht, die eine Frau spürt, ist oftmals größer als die Beziehung, die sie im Moment lebt
Wie sind Sie auf den Buchtitel „Die Meeresflüsterin“ gekommen? Waren Sie zu dieser Idee gerade am Meer oder haben Sie eine persönliche Geschichte am Meer erlebt, die Sie zu dem Titel gebracht hat? 
Offen gesagt, mag ich es,  Namen oder Titel zu erfinden. Ich nehme Stimmungen auf, lasse Fluidales auf mich einwirken und  lausche in mich hinein. Passend zum Charakter einer Figur höre ich dann einen Namen. In diesem Roman heißt die Hauptfigur Fenja Susann Wohlgardt. Der Name Fenja klingt für mich sehnsuchtsvoll, wehmütig, genau richtig für eine junge Frau, die das Meer liebt, weil sie sich ihm in ihren Stimmungen verbunden fühlt. Meine Hauptfigur ist die jüngere, ungeliebte Tochter eines verarmten Mecklenburger Leinewebers in Ahlbeck, die in der Sterbestunde ihrer Mutter mit einem  Rätsel konfrontiert wird. Die Frage, die sich ihr stellt, berührt nicht nur das Verhältnis zu ihrer Schwester, sondern auch das ungelöste Erbe mütterlicherseits. 
Nachdem ich schon Monate zuvor mehrmals an die Ostsee gefahren war – nicht zuletzt wegen der Recherchen für „Die Muschelsammlerin“ –  lag es also  nahe, dass Fenja eine „Meeresflüsterin“ ist. Ich sehe sie so: 
 „Sie schaute über das Meer, das sie so liebte, weil es so atmete wie sie. 
Weil sie seine Stimme liebte.
Weil es ihr Echo war.
Weil es so wandelbar war wie sie.
 (…) `Nur ein Traum`?, ritzte sie mit dem Holzsplitter in das Eis. Wenn es schmölze,          würden die Wellen ihre Frage hinaus auf das Meer tragen. Und irgendann, hoffte sie, würde es ihr antworten.“ (S. 31)
Ihr Roman spielt in Ahlbeck. Haben Sie eine persönliche Verbindung mit der Insel Usedom?
 Ja, in Heringsdorf – eines der Kaiserbäder zwischen Bansin und Ahlbeck – spielt mein erster Knaur-Roman „Villa Bernstein“ (2002; Neuauffl. 2011; eBook 9/2012). Im Jahr zuvor hatte ich die Insel bereist. Natürlich stellt die aufblühende Bäderkultur um 1900 die aufregendste Epoche der Insel dar, und die schönen Villen aus der Kaiserzeit  haben mich zu so mancher Träumerei inspiriert. Aber auch das Binnenland mit seiner ruhevollen Ausstrahlung weckte mein allgemeines Interesse an der Geschichte der Insel. 
Warum spielt Ihre Geschichte vor so langer Zeit? 
Eine gute Frage. Denn zum ersten Mal habe ich das Thema der Liebe in einem Roman ernster genommen, als es manche LeserInnen gewöhnt sind.  Schmetterlinge im Bauch zu haben kennt jeder, hier aber wollte ich eine Romanheldin entwerfen, die voller Sehnsucht ist, vom Leben aber dazu gezwungen wird, zu verstehen, was es heißt, zu lieben. Zu verstehen bedeutet, z. B. das  – scheinbar verwirrende – Verhalten des geliebten Mannes zu begreifen, mit Misstrauen und Unverständnis umzugehen. Ich denke, das sind grundlegende Probleme, die natürlich für alle Zeiten gelten. In einer Zeit großer Standesunterschiede aber ist die zwischenmenschliche Spannung noch größer als heute. Daher habe ich mich – in der Reihe der vorherigen historischen Romane – für das Jahr 1905, also wieder für die Belle Époque (ca. 1884 – 1914), entschieden. 
Welche Beziehung haben Sie selbst zum Meer? 
Ich liebe es! Wie sollte ich sonst eine „Meeresflüsterin“ beschreiben können? Aus diesem Grund habe ich mich auch von Erich Frieds Gedicht „Meer“ inspirieren lassen …
            „Wispere
            im Sand der Dünen,
            am Meer aber
            schweige.
            Schau,
            wie sie fortwehen,
            deine Gedanken,
            über des Meeres launiges Mienenspiel.
            Träume, hoffe.
            Vor allem aber
            gib dich,
            gib alles frei,
            wenn du die Freiheit suchst.
            Denn das Meer selbst
            wird dir eine Antwort geben.
 Übrigens habe ich mich – obwohl keineswegs seetauglich – gleich nach der A-Schein-Prüfung auf einen Ostsee-Segeltörn eingelassen … Also, wer das trotz Windstärke sieben und entsprechender Ausfallserscheinungen übersteht und immer noch das Meer liebt, gehört einfach zum Meer. Hinzufügen muss ich aber, dass ich die Berge ebenso liebe, weil ich ihr besonderes, fast magisches Kraftfeld schätze. Daher ist Wandern für mich auch ein meditativer Akt. 
Inwiefern finden Sie sich selbst in der Titelfigur der Meeresflüsterin wieder? 
Fenja Susann Wolgardt ist sie selbst. Sie ist ebenso authentisch, wie ich es als Autorin bin. Mit einem guten Maß an Empathie kann ich mich aber sehr gut in die unterschiedlichsten Charaktere hineinfühlen. Ohne Gefühl, ohne echte Anteilnahme, kann ich einfach nicht schreiben.  Schreiben ist für mich auch etwas Schauspielhaftes, nur noch intensiver, weil der Akt der Erfindung den Akt des Handwerklichen nachsichzieht.  Schreiben ist harte Arbeit, wenn man denn Sprache liebt. Die Materie der Sprache aber ist nun einmal kein Sand, den man schnell mal mit feuchten Händen formt. Wörter, Syntax, Sprachmelodie auf Harmonie zu trimmen, kann ganz schön anstrengend sein.
Was das Persönliche anbelangt:  Wer jemals einem Menschen begegnet ist, der, und sei es nur für magische Augenblicke, die eigene Seele berührt, weiß: Die Sehnsucht, die eine Frau spürt, ist oftmals größer als die Beziehung, die sie im Moment lebt. Ich glaube, es ist diese Utopie, die das zutiefst Weibliche in uns ausmacht. Andererseits … ich glaube schon, dass es eine Art Bestimmung gibt, auf die wir keinen direkten Einfluss haben … Sich im anderem neu entdecken, sich mit dem anderen wandeln, ist auch ein  Aspekt der großen Liebe. 
Aber die handwerkliche Seite des Schreibens schmirgelt sozusagen das Übermaß an individueller Emotionalität wieder ab, die Figur „materialisiert“ sich, wird echt, unabhängig vom persönlichen Input des Autoren. 
Wie viele Stunden am Tag verbringen sie mit schreiben? Gibt es auch Zeiten, wo sie gar nicht schreiben und dann wieder extrem viel?
 Anders als Gegenwartsautoren bin ich über Monate hinweg mit intensiver Recherche faktischer Grundlagen beschäftigt. Ich reise, wenn möglich, zu den Orten, an denen der Roman spielt. Doch wer historische Romane schreibt, weiß, dass die gewonnenen Eindrücke immer nur vage bleiben, weil sie längst  von der Gegenwart überlagert sind. Wer sich als Autor um historische Authentizität bemüht, stürzt sich selbstverständlich mit Ausdauer auf das umfangreiche Material, das der Zeit entstammt, in der der Roman spielt.   Denn nur zeitgenösssische Erlebnisberichte und kulturwissenschaftliche Abhandlungen bieten uns das echte, stimmungsvolle Zeitempfinden, das unsere Neugierde befriedigt.
Mein Motto ist: Wie nah am historisch Wahrscheinlichen ist das, was im Roman geschieht? Aber das ist ja nur ein Teil der Arbeit. 
Also, wenn ich mit der Recherche fertig bin und  zu schreiben beginne, fliegen die Stunden  nur so dahin. Acht, neun, zehn Stunden quasi non-stop –  bis auf die Koch-Pause – sind normal. Es ist fast ein geistiger Rauschzustand, man denkt und denkt, kombiniert, assoziiert, kritisiert, ändert, feilt – man lebt absolut in seiner Welt. Manchmal geht das eine Sechs-Tage-Woche so, manchmal nur drei Tage. Dann ist eine Pause fällig. Da ich zwar Plots entwerfe, aber stets spontan drauflosschreibe und nicht nach  Reißbrett-Szenerie arbeite, ist die innere Anteilnahme sehr groß, sowohl was Schicksale wie Handlungsstränge anbelangt. Man braucht dann Zeiten, in denen man wieder zu sich kommt, sich wieder „auffüllt“. 
Haben Sie einen Lieblingsschreibplatz, wo Sie besonders gern schreiben? Gibt es Orte, Umstände oder Zeiten, die auf Sie besonders inspirierend wirken und in denen Ihnen das Schreiben besonders leicht fällt? 
Die Lebendigkeit einer neuen Welt zu schaffen setzt äußere Ruhe für absolute Konzentration voraus. Das gilt für viele Kollegen, so auch für mich. Also, ein Caféhausschreiber bin ich nicht. Aber wenn ich ein Café beträte, würde ich sehr viele Eindrücke wahrnehmen, die ich dann speichern und möglicherweise bei einem späteren Romanprojekt verwenden würde.
Ich arbeite auch nicht anders, als es viele meiner KollegInnen tun: Tag für Tag an den  Schreibtisch, mit Schwung auf den Kniesitz, den PC anstellen und: Sprung in die neu entstehende Welt, Suche nach den Figuren, den inneren Kontakt zum Leser/zur Leserin halten, in sich hineinlauschen, nach „Erzählgeschenken“ Ausschau halten … 
Was mich immer sehr interessiert ist die Frage, wie viel Autobiografisches fließt in ihre Bücher mit ein? 
Wie schon in den vorherigen Antworten angedeutet, Empathie für die Romanfiguren ist für mich absolut wichtig. Persönliches hingegen wird durch die Erschaffung fiktionaler Figuren reflektiert, modelliert, hinterfragt oder angepasst, je nachdem. Damit werden Romanfiguren lebendig, authentisch, der Autor bleibt sich selbst treu. Trotzdem überwiegt – abgesehen von der detailgetreuen Faktenfülle historischer Überlieferung – die FANTASIE. Und das, was ich über die Liebe schreibe, spricht vielen meiner LeserInnen aus dem Herzen, das höre ich glücklicherweise immer wieder. Darüber freue ich mich, denn ohne zu wissen, wie sich Liebe,  vertrauensvolle Hingabe, gar die große Liebe anfühlen, blieben die Worte aus. 
Welches ist Ihr Lieblingsgenre beim Schreiben, welches beim Lesen? Haben Sie ein absolutes Lieblingsbuch? Wenn ja, welches?
Wenn ich schreibe, lese ich nur Fachliteratur, um bei meiner inneren Sprachmelodie zu bleiben. Fremder Stil würde mich nur ablenken. Ich finde es wichtig, auch beim Schreiben  sich  selbst treu zu bleiben. Dem Genre des Historischen Romans zu dienen, heißt für mich keinesfalls, unpersönlich zu werden. Im Gegenteil. Ich möchte meine LeserInnen, neben all der aufwendigen Recherche, so individuell wie möglich ansprechen. Aber ich lese ansonsten sehr viel, stets mehrere Bücher gleichzeitig. Als eines von vielen Lieblingsbüchern würde ich das erste nennen, das mich faszinierte: Vom Winde verweht (Margaret Mitchell), natürlich auf Englisch, als Vorbereitung aufs Englisch-Abi.
Im Moment liegen noch immer aufgeschlagen umher: Das goldene Joch (Eileen Chang), Die Träumerin von Ostende (Eric-Emmanuel Schmitt), wieder einmal: Lieblose Legenden (Wolfgang Hildesheimer), Ein Traum von Musik (Hrgs. Elke Heidenreich), Nachkriegskinder (Sabine Bode), Der ehrliche Lügner (Rafik Schami). Nach Kate Mortons Der verborgene Garten unterhalten mich aber stets  verlässlich: Doris Dörrie und Charlotte Link. 
Wie sind Sie aus der normalen Vollzeitberufstätigkeit zum Schreiben gekommen und war es ein schwerer Schritt in die Selbständigkeit? 
Immer, wenn man etwas gewinnt, verliert man auch etwas anderes. Mir fiel es zunächst nicht  leicht, von einem Tag auf den anderen zu kündigen. Meine Kollegen kannten mich als engagierte Lektorin und konnten meine  Entscheidung kaum nachvollziehen. Doch für mich gab es nur diese eine konsequente Entscheidung. Ich war schwanger und wollte für mein Kind ebenso hundertprozentig da sein, wie ich es vorher für Kollegen und Chefs war. Entweder, oder. Ganz oder gar nicht. Dafür habe ich auf ein gutes Gehalt verzichtet, aber persönliche Freiheit gewonnen. Diesen Schritt habe ich nie bereut. Man sollte einfach wandlungsfähig und flexibel bleiben … ganz so wie im Roman. 😉 
Sie sind Mitglied in der Vereinigung deutschsprachiger Liebesromanautoren kurz DeLiA. Was bedeutet Ihnen diese Vereinigung? 
Also, wenn ich allein an das letzte Treffen in Grassau denke: Es war wieder einmal sehr schön,  liebe KollegInnen zu sehen, sich mit ihnen über berufliche Belange auszutauschen, Kontakte zu intensivieren, neue zu knüpfen, schlichtweg: gemeinsam eine gute Zeit zu genießen.
Jede/jeder von uns hat ihre/seine eigene Herangehensweise ans Schreiben. Schließlich soll diese Abwechslung  ja die LeserInnen möglichst vielfarbig, möglichst authentisch unterhalten. Umso spannender sind da natürlich die Begegnungen unter uns „Schreibgeistern“.
Was erwartet Ihre Leser demnächst? Arbeiten Sie schon an einem neuen Projekt? 
Ja, ich werde meine LeserInnen mit einem größeren Projekt überraschen, das mich schon seit langer Zeit beschäftigt. Dieses Mal geht es um ein spezielles Thema, auf das ich im Nachlass meiner Familiengeschichte stieß. Ich war sehr überrascht, auf Briefe zu stoßen, die auf ein Geheimnis hinweisen. Das Thema ließ mich nicht los, obwohl die Betroffenen längst nicht mehr leben und ich auf meine Fantasie angewiesen bin. Ich habe viele Gespräche mit Frauen geführt, die offen zu ihren klaren Gefühlen stehen und meinen Plan unterstützen, einfühlsam Stoff und Thema zu einer differenzierten Geschichte auszuarbeiten.
Liebe Katryn, ich bedanke mich ganz herzlich – auch im Namen meiner Blogleser – für dieses ausführliche Interview und besonders für unsere schöne Begegnung in Grassau.
Die Bücher aus der Verlosung gehen an
Julia G.
Bettina K.
Herzlichen Glückwunsch!
Die Interviewfragen stammen aus Einsendungen, im Rahmen der Aktion „Leser fragen – Autoren antworten”

2 thoughts on “Interview mit Katryn Berlinger

  1. Aaaaahhh! Ich habe ja gewonnen und meine Frage wurde auch in das Interview mit eingegliedert.
    Rici, benötigst du noch Informationen von mir (Anschrift o.ä.?)
    Es ist ein tolles Interview geworden.
    Viele Grüße,
    Julia

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